Peter Nansen Scherfig

Asseln oder die Faszination an prä-anthropozäner Ornamentik



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Ich liebe Asseln.

Schon als kleiner Junge waren Asseln meine Lieblingstiere. Oft suchte ich draußen beim Spielen den Boden nach ihnen ab, beobachtete fasziniert ihr reges Treiben. Vor der Haustür gab es nichts Spannenderes als alles umzudrehen: Egal ob lose Terrassenfliese, aufgeschichtete Holzscheide oder geborstener Pflasterstein am Wegesrand – fast immer offenbarte sich mir darunter eine geheimnisvolle Welt bewohnt von Regenwürmern, Ameisen, Käfern, Tausendfüßlern und natürlich Asseln. Manchmal war ich ein wenig verärgert darüber, dass sich mein wundersames Krabbelvolk stets zu verstecken suchte, sobald ich das Schutzdach anhob. Dies hatte zwangsläufig zur Folge, dass für eine zufriedenstellende Safari immer wieder aufs Neue Steine und Totholz umgedreht werden mussten. Natürlich wusste ich damals noch nichts von chitinhaltiger Cuticula, einer wachslosen Schutzschicht, die Landasseln umgibt und die sie um zu Überleben unbedingt vor Austrocknung schützen müssen. Sicherlich auch ein Grund, warum sich die Subjekte meiner Begierde vor allem während der Sommermonate gerne unter schatten- und feuchtigkeitsspendenden Abdeckungen verbargen.

Asseln gibt es seit Millionen von Jahren. Und es gibt viele von ihnen. Weltweit. So sind der Biologie allein über 3500 Landasselarten bekannt. Allesamt harmlos. Nützlich obendrein. Als biologische Erstzersetzer ernähren sie sich von verwestem, organischem Material: Pflanzliches Allerlei, Pilzhyphen, Insektenkadaver und Kot werden durch Verdauung zu bester Erde verwandelt. Erde auf der wir laufen. Diese einzig dauerhaft an Land lebenden Ur-Geschöpfe aus der Klasse der Höheren Krebse werden bis zu 20 Millimeter groß. Für gewöhnlich säumen sieben Laufbeinpaare den abgeflachten, längsovalen Körperbau der Tiere. Mit ihren Facettenaugen samt doppeltem Antennenpaar am Kopf ist die Landassel ein echter Hingucker. Ausgeprägte Mundwerkzeuge, segmentierte Rückenplatten, stempelartige Begattungsorgane am Hinterleib der Männchen sowie wie Schwanzfächer plus Tastorgane tragen ihren Teil zur aufregenden Optik bei.

Ohne damals bereits ihren Namen zu kennen, schloss ich besonders die Kugelassel, auch Rollassel genannt, in mein Herz. Vielleicht liegt es an ihrem pazifistischen Lebensstil, der mir noch heute so überaus sympathisch ist. Ein flexibler Panzer ermöglicht es ihr, sich bei einem Angriff zu einer Kugel zusammenzurollen. In dieser Haltung erinnert sie an ein rundes Steinchen. Beinahe unantastbar kann die Kugelassel über Stunden in dieser Position verharren. Warten, bis die äußere Gefahr gebannt ist. Weibchen können auf diese Weise sogar ihren in der Bruttasche getragenen Nachwuchs schützen.
Eine Fähigkeit, um die ich die Kugelassel sehr beneidet habe: Wie oft wünschte ich mir als Kind , mich unangenehmen Situationen auf dieselbe Weise entziehen zu können und erst dann wieder aufzutauchen, wenn die Luft rein war.
Übrigens im Unterschied zu den meisten ihrer Artgenossen weiß die Kugelassel trockene Habitate zu schätzen. Für die Häutung gräbt sie sich in den Boden ein.
Eine besondere Assel, in vielerlei Hinsicht.

Zum großen Unmut meiner Mutter beschloss ich irgendwann, Asseln in meinem Kleiderschrank unter der frischen Wäsche halten zu wollen. Zu diesem Zweck wurde eine Plastikkiste angeschafft, die sich gut verriegeln lies. Hinein legte ich Blätter, modernde Holzstücke, Kartoffelscheiben und ein paar Steine, besprenkelte das Ganze mit Wasser und begab mich anschließend auf Pirsch. Da mir das Jagdglück besonders hold war kam ich sogar mit zwei verschiedenen Asselarten nach Hause. Eine zweite Kiste musste her. Jetzt waren die Grundlagen für eine erfolgreiche Zucht gelegt. In den nächsten Monaten erschuf ich mir ein nahezu perfektes Mini-Biotop. Da meine Tiere keine natürlichen Feinde hatten, stand ihrer Fortpflanzung nichts im Wege. Und so wuchs ihr Bestand stetig an. Weitere Kisten wurden nötig. Es machte mich einfach glücklich, die Asseln in großer Nähe zwischen meinen Unterhemden und Unterhosen zu wissen. Wir bildeten eine Wohngemeinschaft, die bestens miteinander auskam.

Asseln bereichern seither mein Leben. Sie fungieren als eine Art Memento Mori – durch ihre Existenz werde ich daran erinnert, dass meine Spezies vom Aussterben bedroht ist. Wir Menschen tun alles, um uns selbst und andere auszumerzen. Offenbar sind wir nicht für eine nachhaltige Koexistenz mit anderen Lebewesen geschaffen. Der Assel ist das egal, sie wird auch weiterhin die Erde bewohnen. Sich noch in ferner Zukunft krümmen, häuten und vermehren; Streuzersetzen und Ton-Humus ausscheiden. Die Assel - ein simples Meisterwerk der Evolution.

Wie keine zweite ihrer Art spiegelt die Ornamentik der Kugelassel für mich diese Vollkommenheit wieder. Sie ist es die mich als Künstler inspiriert, mir bei meiner Suche nach stimmiger Ausdrucksform einen Weg weist.
Der Kreis ist einer der ältesten bekannten Ornamente, oft gedeutet und vielfältig in seinen Bedeutungen: sei es als Symbol der Ewigkeit, als ewiger Zyklus, die Sonne, der Mond oder auch als die perfekte geometrische Form. Für all diese bedeutungsschwangeren Eigenschaften steht die Kugelassel. Nicht nur durch ihre Form, sondern auch durch ihre verblüffende Überlebensfähigkeit, repräsentiert sie für mich eine prä-anthropozäne Ornamentik deren ewige Wiederholung zu einem eigenen Muster wird; zu einer endlosen Tapete, die sich in Raum und Zeit entfaltet. Eine Musterform , die die menschliche Ornamentik überleben wird.

Ach ja, erst kürzlich habe ich wieder angefangen, Asseln zu züchten. Sie sind schlichtweg einfacher zu halten als Hunde oder Katzen. Man muss mit ihnen weder Gassi gehen, noch mit ihnen spielen. Es sind wirklich feine Tiere. Wie schade, dass sie nicht wissen, wie sehr ich sie schätze.

 

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